Chancen und Herausforderungen der neuen Medien (8/2015)

Chancen und Herausforderungen der neuen Medien für die Literatur- und Kulturwissenschaften (Impulsreferat)
Lutz Koepnick (Vanderbilt University)
XIII. Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (Shanghai, August 2015)
Plenarpanel: “Multimodalität, Intermedialität – Chancen und Herausforderungen der neuen Medien”

Eine der vielleicht prekärsten Effekte dessen, was zumindest im angloamerikanischen Raum immer mehr als spezifisch deutsche Medienwissenschaft verstanden wird, ist, dass sie oft kaum daran interessiert scheint, was real existierende Mediennutzer und –pädagogen wirklich alles mit den Produkten gewisser Medienumbrüche anstellen. Je mehr die kategorische Differenz zwischen Soft- und Hardware in Frage gestellt wird, je mehr kulturelle Praktiken als bloße Effekte technologischer Veränderungen begriffen werden, je häufiger Mediengeschichte und -archäeologie als reine Technikgeschichte mit naturwissenschaftlichem Objektivitätsanspruch getrieben wird, desto geringer die Möglichkeit, jene sozialen, politischen und kulturellen Modalitäten ins Auge zu rücken, mit den heutige Mediennutzer Altes und Neues oft unentschieden oder gar kreativ nebeneinander laufen lassen. Die These, dass digitale Technologien in den letzten zwei Jahrzehnten ein Regime menschlicher Kommunikation, Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit radikal gegen ein anderes ausgetauscht oder im Namen der Virtualisierung zu einem Ende des humanistischen Subjekts geführt haben, mag oft beeindruckend und gar sexy klingen, übersieht aber immer wieder, dass die Neuigkeit neuer Medien nicht allein von ihren technischen Konfigurationen bestimmt wird, sondern von dem, was Gesellschaften mit ihnen machen. Wie jeder weiss, der hier in den letzten Tagen dem Great Firewall begegnet ist und vergeblich versucht hat, einen Google search auszuführen, in der New York Times über den Shanghaier Börsencrash zu lesen oder sein Twitter, Facebook oder Instagramkonto einzusehen—technologische Infrastrukturen wie die des Internets allein laufen selten auf automatische Veränderungen, gar Liberalisierungen, der Verständigungsverhältnisse hinaus, wenn autokratische Traditionen und Strukturen die Software und die Schnittstellen der Mediennutzung effektiv zu regulieren verstehen. Das neue dessen, was wir heute neue Medien nennen, liegt weniger darin begründet, dass sie digitale Pixel analogen Repräsentationsformen, mobile Bildschirme statischen Informationsdisplays, Interaktion und Vernetzung der Einbahnstraße früherer Massenkommunikation entgegen setzten. Vielmehr liegt es darin, dass digitale Medien der Gegenwart multimodal operieren, alte und neuere Medienpraktiken und -geschichten miteinander hybridisieren und immer mehr auf die Konvergenz dessen setzen, was einst eher separat als Bild, bewegtes Bild, Ton und Text, Rezeption und Produktion, Arbeit und Spiel galt. Neue Medien sind neu, nicht weil sie der Geschichte radikal entsagen, sondern weil sie diese in neuen und oft pluralen Konfiguration auffrischt und rekonfiguriert. Neue Medien sind neu, nicht weil sie klare Brüche produzieren sondern zu oft genauso produktiver wie angsterfüllter Unübersichtlichkeit führen und gerade so Strategien ab- oder neu ins Leben rufen, mit denen derartige Unübersichtlichkeit navigiert oder kontrolliert werden kann. Die Frage, ob neue Medien Tradition oder Innovation unterschreiben, ist von daher irgendwo auch falsch gestellt, da das Neue neuer Medien zumindest potentiell immer wieder das gesamte Verhältnis von Innovation und Tradition neu kalibriert, also das was überhaupt erst als Tradition zu verstehen ist. Nie war es von daher vielleicht wichtiger als heute, Medien nicht als Teil eigenläufiger Technologiegeschichte sondern als Ort zu verstehen, an dem Technik, sinnliche Wahrnehmung und Bedeutung auf kontingente Weise miteinander verhandelt und um die Zukunft der Gegenwart und Vergangenheit gerungen wird.

In den Literatur- und Kulturwissenschaften kreisen Debatten um das neue neuer Medien immer wieder um die Frage, ob der Durchbruch digitaler Medien traditionelle Methoden der Textproduktion im Sinne einer poststrukturalitsichen Aufsprengung von Werkgrenzen und konzentriertes Leseverhalten im Namen einer zutiefst dezentrierten Aufmerksamkeitsschwäche ersetzt haben. Dass heute Literatur immer schon von digitalen Technologien geprägt ist, ob im Produktions-, Vermarktungs-, Vertriebs- oder Rezeptionsprozess wird in derartigen Debatten oft genauso übersehen wie die Tatsache, dass Digitalität den Schreibenden wie Lesenden oft im phänomenologischen Gewand des Analogen begegnet, Oberflächen also, die diskrete numerische Einheiten in durchaus kontinuierliche und nicht-numerische Wahrnehmungsgehalte übersetzen. Ob der Umstieg von Print zu Bildschirm, Analogem zu Digitalem wirklich so drastisch ist wie oft gepriesen oder gefürchtet, ist von daher genauso fragwürdig wie die Annahme, dass Schreibende wie Lesende sich heute einem manichäischen Entweder-Oder gegenüber sehen und nicht einer oft stimulierend konfusen Vermengung, Überlagerung und Parallelität von Altem und Neuem, nicht-digitalen und digitalen Infrastrukturen und Schreib- und Leseformen.

Literatur, die heute mit elektronischen Plattformen aktiv experimentiert, wird oft weiterhin eines gewisse Anerkennung gerade im akademischen Bereich abgesprochen. Vielen gilt sie einfach als Spielerei. Was derartige Experimente jedoch immer wieder zum Vorschein bringen ist zweierlei. Einerseits lässt sich eine deutliche Anreicherung der Schriftlichkeit mit bewegten oder stillen Bildern und choreografieren Tonelementen beobachten, die sich oft nicht länger mehr linear rezipieren lassen und anderen Zeitkünsten ähnlich mit Lesern rechnen, die bereit sind, zugleich dem Zeitfluss eines Werkes zu folgen und sich—wie Besucher einer Videoinstallation—die Dauer eines Werkes umzuarrangieren und vielleicht gar mit Hilfe mobiler Bildschirme wortwörtlich durch Raum und Zeit tragen. Andererseits lässt sich kaum übersehen, dass die Figur des Prosumers immer mehr auch auf das Einfluss übt, was als Literatur im digitalen Zeitalter zu gelten hat. Dies beinhaltet nicht nur, dass Leser immer häufiger zu Kritikern werden und ihre Kommentare, Annotationen und Einsichten zu gewissen Texten über öffentliche oder halb-öffentliche Plattformen miteinander austauschen. Es meint auch, dass immer mehr literarische Texte den Leser aktiv dazu einladen, den Schreibprozess durch eigene Interventionen zu komplettieren. Elektronische Literatur verdeutlicht heute immer wieder, dass neue Medien der Gegenwart traditionelle Grenzziehungen zwischen Akten des Schreibens und Akten des Lesens immer mehr einebnen. So wie der narrative Verlauf von TV-shows heute immer mehr auf die auf dem Bildschirm sichtbaren live-Tweeds ihrer Zuschauer mittel- und langfristig reagiert (zumindest in Kulturen die Twitter nicht blockieren); so wie Photo- und Videoprogramme es uns immer einfacher machen, Mashups existierender Filme oder eigene Varianten populärer Musikstücke zu produzieren und zu verbreiten; so entstehen heute auch immer mehr Literaturen, in denen das Schreiben des Lesenden Texte mitproduziert, die Geschlossenheit eines klassischen Werkbegriffs in Frage stellt und den Akt der Lektüre als zutiefst performativen neu verstehen lässt.

Ich bin mir nicht sicher, dass unsere Profession sowohl in analytischer als auch didaktischer Perspektive allzu gut auf derartige Transformationen vorbereitet ist. Zum einen werden wir zukünftige Studierende viel besser methodisch auf narrative Situationen vorbereiten müssen, in denen Schrift, Bild und Ton in zugleich vorstrukturierten aber auch vom Lesenden zu konstituierenden Ensembles miteinander interagieren, in denen weder die semantische noch die physische Einheit des Textes oder des Lektüreakts gewährt ist, erzählende Literatur sich vielmehr als multimodales Ereignis begreift, das die Konvergenztendenzen digitaler Produktion- und Distributionsplattformen systematisch zum Einsatz bringt. Weder bewährte Begriffe des offenen Kunstwerks, der experimentellen Literatur, der konkreten Poesie oder gar des Gesamtkunstwerks scheinen ganz angemessen, um komplexe Schrift-Bild-Ton-Praktiken wirklich zu analysieren oder gar dem Faktum Rechnung zu tragen, dass Medienkultur heute immer mehr als ambiente zu verstehen ist, als eine, die kaum noch mit jenen konzentrierten Lesern, Zuschauern und Zuhörern rechnen können, die wir ins unseren Interpretationsmethoden schlichtweg voraussetzten. Zum anderen wird die Literaturwissenschaft im Zeitalter neuer Medien viel stärker die Tatsache in Betracht ziehen müssen, dass kreative Medienpraxis heute immer mehr integrativer Teil analytischer oder theoretischer Arbeit ist, dass in einem Zeitalter, in dem sich Schreiben und Lesen in mutimodalen Environments verflechten, kritische Arbeit am Text auf unterschiedlichste Medienkompetenzen zurückgreifen muss, um dem was als Text gelten mag überhaupt erst auf Augenhöhe zu begegnen. Zukünftige Literaturwissenschaft wird das Herstellen komplexer digitaler Medienobjekte nicht nur als analytisches und theoretisches Äquivalent einer klassischen Monographie begreifen müssen, sondern Studierenden in ihrem Studium curricularen Platz einräumen müssen, ihre Fähigkeiten auszubilden, zu kompetenten Text-, Bild- und Toneditoren zu werden und Onlineinhalte gestalten und programmieren zu lernen. Statt alles auf die Karte eines verengten Begriffs der Digital Humanities zu setzen, in dem digitale Resources derzeit vor allem dem Versuch dienen, Zonen humanistischer Ambiguität zu überwinden und die scheinbare Objektivität von Datensätzen zu loben, liegt die wahre Chance neuer Medien in Literatur wie Literaturwissenschaften heute darin, neue Methoden der produktiven Visualisierung und Sonifizierung, des kreativen Kuratierens und Resampelns, also eines radikal erweiterten Konzepts des Schreibens zu entwickeln. Methoden, die stolz auf ihre spekulativen, idiosynkratrischen und ästhetischen Elemente sein können und Studierende zugleich auf wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Karrieren im Wissens-, Ausbildungs-, und Unterhaltungssektor vorbereiten können, von denen wir, ob wir uns am klassischen PrintBuch ausrichten oder technologische Entwicklung als Eigenlogik begreifen, wirklich noch keinen Begriff besitzen.

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